Der ukrainische Grenzschutz will verhindern, dass Männer im wehrfähigen Alter das Land verlassen. Dafür setzen die Grenzer auf Abschreckung. Viele schaffen es trotzdem – einige aber sterben auf der Flucht.

Im März veröffentlicht der ukrainische Grenzschutz in den sozialen Netzwerken ein Video, das sich schnell verbreitet. Darin ist zu sehen, wie Rettungskräfte den leblosen Körper eines 23-jährigen Mannes aus einem Fluss bergen. Offenbar hatte der Ukrainer versucht, die Theiß, die im Norden Rumäniens die Europäische Union von der Ukraine trennt, zu durchschwimmen.

Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine aufgrund des Kriegsrechts nicht verlassen. Viele wählen deshalb diese gefährliche Route. Wer auf der Flucht erwischt wird und bereits einen Einberufungsbescheid erhalten hat, könnte sogar für drei bis fünf Jahre im Gefängnis landen.

Abschreckung mit Erfolgsmeldungen

Um die Männer von der Flucht abzuhalten, veröffentlicht der Grenzschutz immer wieder Erfolgsmeldungen im Kampf gegen illegale Migration und Schleppernetzwerke.

Das Überqueren der Grenze gilt in der Ukraine als Ordnungswidrigkeit. Dennoch heißt es in einer Pressemeldung, dass Soldaten Warnschüsse abgaben, um acht Männer an der Flucht zu hindern.

In einem Video, das der Grenzschutz auf Facebook veröffentlichte, sind Männer zu sehen, die von Soldaten gezwungen werden, mit den Händen hinter dem Kopf am Straßenrand niederzuknien, bevor sie abgeführt werden.

Dennoch haben im letzten Jahr laut den rumänischen Behörden 5400 Ukrainer die Grenze illegal überquert. 2000 von ihnen wählten die Route durch die Theiß.

Wie sich der Grenzschutz geändert hat

Entlang des 63 Kilometer langen Flussufers patrouilliert die rumänische Grenzpolizei. Früher hätten sie Zigarettenschmuggler gejagt, nun griffen sie täglich zehn bis 15 Männer in diesem Grenzabschnitt auf, sagt Lulia Stan, Sprecherin der Polizei der Region Maramureș.

„Die meisten Männer, die den Grenzfluss überqueren, befinden sich in einem schlechten Gesundheitszustand“, so Stan, und hätten „Erfrierungen, Knochenbrüche und benötigen medizinische Versorgung“.

Im vergangenen Jahr fand die Polizei insgesamt zehn Leichen am Ufer. Diejenigen, die es schaffen, den eiskalten Fluss zu durchschwimmen, erhalten wie alle Ukrainer für mindestens ein Jahr vorübergehenden Schutz in der EU.

Fluchthilfe – oder Menschenschmuggel?

Im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet konnte der SWR einen Schmuggler treffen, der von einer bereits in Tschechien lebenden Familie gebeten wurde, ihren 25-jährigen Sohn Nikolaj sicher in die EU zu bringen.

Der Schmuggler – er soll in diesem Text Igor heißen – lebt selbst im Ausland, stammt aus der Region Transkarpatien und kennt den Weg durch den Fluss. Igor sagt, er erhalte für den Schmuggel nur eine Aufwandsentschädigung: „Ich tue es nur, weil ich den Männern helfen möchte, und sie mich anflehen. Ich werde sehr oft gefragt, ob ich Leute vermitteln kann, die schmuggeln. Sie bieten mir Geld an, 5000 Euro. Ich habe abgelehnt, weil ich es falsch finde, damit Geld zu verdienen.“

Überprüfen lassen sich Igors Aussagen nicht. Andere Ukrainer berichten, dass sie zwischen 1500 und 10.000 Euro für die Flucht gezahlt hätten. In der Ukraine gilt das, was Igor tut, als Menschenschmuggel. Regelmäßig verhaftet die ukrainische Polizei Schmuggler, die gefälschte Dokumente verkaufen oder Männer über die Grenze bringen. Ihnen droht zwischen sieben und neun Jahren Haft.

Grenzübertritt bei Nacht

Bei Anbruch der Nacht bereitet Igor sich in einem rumänischen Dorf am Ufer der Theiß vor. In der Ukraine habe er Freunde, wie er sagt, die für ihn mit Nachtsichtgeräten den Grenzabschnitt nach Soldaten absuchen. Wenn die Luft rein ist, gehe er durch das Wasser in die Ukraine.

Um die Männer von der Überquerung abzuhalten, hat die ukrainische Armee entlang des Flussufers Stacheldraht gezogen und Checkpoints errichtet. Dennoch plant Igor, Nikolaj nach Rumänien zu bringen.

Die starke Strömung ist lebensgefährlich

Zwei Tage lang ist nichts von Igor zu hören. Dann, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, kommt eine Nachricht aus der Ukraine. Igor schickt einen Standort. 350 Meter entfernt sitzt er mit dem Mann im Gebüsch und wartet auf das Signal der Helfer, die das Gebiet nach Soldaten absuchen. Kurze Zeit später kriechen die Männer durch den Stacheldraht und schwimmen durch die Theiß.

Aufgrund der Schneeschmelze in den Bergen ist das Wasser besonders kalt und steht hoch, die Strömung ist stark. Plötzlich suchen Taschenlampen das Ufer ab, genau an der Stelle, an der die Männer die Theiß durchqueren wollten. Dann tauchen im Dickicht des Ufers zwei rumänische Beamte auf, zwischen ihnen läuft ein Mann.

Es ist Nikolaj, der in Gewahrsam genommen wurde. Der Ukrainer ist nass und durchgefroren, aber unverletzt. Doch der Schmuggler wurde nicht verhaftet. Ist er ertrunken? Wenig später taucht auch er auf der rumänischen Seite auf.

Aus Angst vor der Polizei sei er wieder ins Wasser gesprungen, habe sich im Fluss treiben lassen und die Strömung unterschätzt: „Zweimal wäre ich fast ertrunken, und obwohl ich das Gebiet gut kenne, hat mich die Strömung überrascht“, berichtet er zitternd vor Kälte.

Nach 48 Stunden frei in der EU

Nach 48 Stunden in Polizeigewahrsam wird Nikolaj entlassen und darf sich frei in der EU bewegen. Er bricht auf zu seinen Eltern, die bereits in Tschechien leben. In der Ukraine habe er sich nicht mehr sicher gefühlt und Angst gehabt, einberufen zu werden, sagt er. Im letzten Jahr habe er das Haus nur selten verlassen, um gelegentlich auf dem Bau zu arbeiten.

Nun, nach der lebensgefährlichen Flucht, hofft er, der Ukraine im Ausland besser helfen zu können als im Schützengraben: „Weder war ich in der Armee, noch habe ich jemals eine Waffe in der Hand gehalten. Ich will arbeiten gehen und mein Heimatland finanziell unterstützen.“

Er glaube, sonst nichts Sinnvolles tun zu können, erzählt er weiter. Mittlerweile lebt Nikolaj bei seiner Familie in Karlovy Vary. Sein Bruder hat ihm bereits einen Job auf einer Baustelle besorgt.

Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-flucht-rumaenien-102.html