Wie viel Platz braucht eine Milchkuh? Soll sie Zugang zu einer Weide haben? Gesetzliche Mindestanforderungen für die Haltung der Tiere gibt es bislang nicht. Ein Rechtsgutachten im Auftrag von Greenpeace sieht Reformbedarf.
Grasende Kühe vor einer atemberaubenden Bergkulisse, strahlend blauer Himmel – so wird das Leben von Kühen gerne auf Milchverpackungen oder in der Werbung dargestellt. Die Realität sieht anders aus. Nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums hat nur etwa jedes dritte Rind im Sommer Weidezugang. Der Großteil der Kühe lebt in Laufställen unter sehr unterschiedlichen Bedingungen.
Zur artgerechten Unterbringung von Rindern, die älter als sechs Monate sind, gibt es bislang keine konkreten Vorgaben seitens des Gesetzgebers. „Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass es in Deutschland über 50.000 Milchviehbetriebe gibt“, sagt Martin Hofstetter, Agrarexperte bei der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Und wenn man sich näher mit der Milchviehhaltung beschäftige, so der Lobbyist für Tiere und Umwelt, seien die Zustände teilweise erschreckend.
Greenpeace hat deshalb ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das die Milchviehhaltung genauer untersucht und BR Recherche vorliegt. Das mehr als 40-seitige Papier stellt Defizite beim Tierschutz fest. Laut dem Gutachten, verfasst von einer renommierten Hamburger Anwaltskanzlei, hat sich eine Praxis etabliert, die tierschutzrechtliche Bedenken aufwirft.
Ein Leben lang angebunden im Stall
Ein Beispiel ist die sogenannte Anbindehaltung. Dabei werden die Tiere zum Beispiel mit einer Kette am Hals fixiert und stehen nebeneinander im Stall. Hinlegen und Aufstehen ist möglich, ein paar Schritte vor oder zurück kann die Kuh nicht machen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben zehn Prozent der Rinder in Deutschland in Anbindehaltung.
Dem Gutachten zufolge kann die Anbindehaltung im Einzelfall den Straftatbestand der Tierquälerei erfüllen, verstoße jedenfalls aber gegen zentrale Gebote des Tierschutzgesetzes. „Bei dieser Haltungsform werden die Grundbedürfnisse der Rinder stark eingeschränkt“, sagt Davina Bruhn, Anwältin für Tierschutzrecht, die das Rechtsgutachten mitverfasst hat. „Im Prinzip handelt es sich um eine Haltung, die vom Gesetzgeber nie wirklich erlaubt war“, erklärt die Juristin. In der Praxis sei sie aber seit Jahrzehnten etabliert.
„Anbindehaltung illegal und strafbar“
Nie explizit erlaubt und auch nicht verboten – welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich daraus? „Wenn wir davon ausgehen – was Stand der Verhaltensforschung und der Veterinärmedizin ist – dass die Tiere unter der Anbindehaltung leiden, dann bewegen wir uns nicht im Graubereich“, sagt der Rechtsexperte Jens Bülte. Der Professor für Strafrecht an der Universität Mannheim geht davon aus, dass die dauerhafte Anbindehaltung gegen das Tierschutzgesetz verstößt und damit illegal und strafbar ist.
In diesem Sinne urteilte auch das Verwaltungsgericht Münster im Dezember 2019. Eine Tierschutzbehörde hatte einem Tierhalter angeordnet, seinen Rindern im Sommer mindestens zwei Stunden täglich Auslauf zu gewähren.
Die Klage des Bauern dagegen wurde abgewiesen. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit den stark eingeschränkten Grundbedürfnissen der Tiere durch die Anbindehaltung. Weiter könne es aufgrund der Bewegungsarmut vermehrt zu Erkrankungen und Schmerzen kommen, heißt es in der Urteilsbegründung.
Bundesregierung will Rinderhaltung regeln
Die Bundesregierung hat sich vorgenommen, das Problem der Anbindehaltung zu lösen. Im Koalitionsvertrag heißt es, man wolle die Lücken in der Nutztierhaltungsverordnung schließen und die Anbindehaltung spätestens in zehn Jahren beenden.
Eine Übergangsfrist von zehn Jahren sei völlig verfehlt, sagt die Juristin Bruhn. Um tierschutzgerechte Zustände in der Rinderhaltung zu schaffen, müsse der Gesetzgeber die Anbindehaltung sofort verbieten und Regeln für weitere Haltungsformen schaffen, heißt es in dem Rechtsgutachten.
Bayern: 10.000 Betriebe binden Tiere ganzjährig an
Vor allem in Süddeutschland halten Landwirte und Landwirtinnen ihre Tiere angebunden. In Bayern sind es rund 10.000 Betriebe, in denen die Tiere das ganze Jahr über angebunden sind, wie eine Landwirtschaftszählung 2020 ergeben hat.
Das Bayerische Landwirtschaftsministerium schreibt auf BR-Anfrage, ein grundsätzliches Verbot der Anbindehaltung, das die Kombinationshaltung umfasst, werde aus bayerischer Sicht kategorisch abgelehnt. Ziel sei, Betriebe bei der Umstellung auf Laufställe oder eine Kombination aus Anbindehaltung und Weidegang beratend und finanziell zu unterstützen.
Ganzjährige Anbindehaltung laut Bauernverband artgerecht
Auch der Bayerische Bauernverband spricht sich auf BR-Anfrage gegen ein generelles Verbot der ganzjährigen Anbindehaltung aus, befürwortet aber gleichzeitig die Weiterentwicklung und Alternativen. Auf die Frage, ob diese Haltungsform artgerecht sei, antwortet der Milchpräsident Peter Köninger: „Nach den fünf Freiheiten zur Beurteilung des Wohlbefindens von Tieren ist eine Kuh in Anbindehaltung frei von Hunger, geschützt und erfährt keine Schmerzen, keine Angst und keine psychischen Leiden“. Jeder Tierhalter und jede Tierhalterin möchte, dass es den Tieren gut gehe, heißt es.
Rechtsgutachten auch zur Schweinehaltung
Das Rechtsgutachten fordert den Gesetzgeber auf, für Klarheit zu sorgen und nationale Mindestanforderungen für die Milchviehhaltung festzulegen. Bereits 2017 hatte Greenpeace mit einem Rechtsgutachten für Aufsehen gesorgt.
In dem damaligen Gutachten ging es um die konventionelle Schweinehaltung und die Frage, ob diese mit dem Tierschutzgesetz vereinbar ist. Es folgte eine Normenkontrollklage, über die das Bundesverfassungsgericht noch in diesem Jahr entscheiden will.
Quelle: https://www.tagesschau.de/investigativ/br-recherche/milchviehhaltung-tierschutz-101.html