von Peter Gross

Schloß Holte-Stukenbrock in Ostwestfalen-Lippe am Tag der Befreiung, oder am Tag des Sieges – wie sagt man so schön „Die gleichen Eier bloß aus verschiedenen Winkeln betrachtet.“

Der gefragte Selfie-Partner

Es werden Selfies mit einem älteren Herrn gemacht. Wer ist der Mann, frage ich mich? Die Antwort ist schnell herausgefunden. In den heutigen Tagen ist er eine gefragte Person aufgrund seines Wohnortes: Bachmut, die seit Monaten umkämpfte Stadt in der heutigen Ostukraine.

Amen.“ –  „Es lebe Russland.“

Vermutlich wir alle kennen diesen für die russische Seele so charakteristischen trockenen Humor, der meist gerne von unseren älteren Russlanddeutschen Arbeitskollegen an den Tag gelegt wird.

Dieser russische Humor findet selbst bei dieser Veranstaltung seinen Platz. Eine Veranstaltung die zwar eine Feier ist bei der der Große Sieg gefeiert wird und dennoch zugleich zu einem noch größeren Teil ist es auch eine Trauerfeier, bei der die Gefallenen im Vordergrund stehen.

Was genau ist passiert?

Der Priester betet. Nach einem abermaligen „Amen“ erklingt eine selbstbewusste Männerstimme und ruft auf Russisch „Es lebe Russland“. Die Menschenmenge, fast alle kommen aus der ehemaligen UdSSR, wendet ihre Blicke zu dem Autor dieses Ausrufs das russische Organ für Humor, welches die meisten hier Anwesenden in sich tragen, ist begeistert: nicht dass der unpassende Ausruf nicht schon kurios genug ist und die Gemüter erfreut, nein, der Herr entpuppt sich auch noch als ein Asiate, ein Kasache mit traditioneller Kopfbedeckung und Russland-Fahne in der Hand.

„Warum ist ein Kasache ein Freund Russlands?“, denken Sie gerade? Dies ist kein Wunder, denn in der „russischen Welt“ leben etwa 200 Völker verschiedener Konfessionen friedlich miteinander.

„Warum gucken Sie mich so an?“

Eine Dame mit T-Shirt mit russischem Trikolore geht in meine Richtung. Konzentriert versuche ich das Bild zu verstehen, denn dieser Mensch, obwohl sie weiß ist, ist freilich kein russischer Mensch. Ich starre sie einen Moment zu lange an, sie ist irgendwann so nah, dass sie mich letztlich anspricht. Mit starkem Akzent aber auf Russisch: „Warum gucken Sie mich so an?“ Bevor ich antworten kann, kommt ein eindeutig russischer Mann und sagt etwas auf Deutsch zu der Dame. Als er weg ist, frage ich, wo sie her kommt. „Ich komme aus der ehemaligen DDR, wir haben dort ja Russisch gelernt. Ich habe es aber lange nicht mehr gesprochen, daher habe ich einen starken Akzent.“ Und dann fragt sie mich, ob ich morgens die Militärparade geschaut habe und zeigt dabei mit den Daumen nach oben.

Sowjetmusik, zwei Polizisten und drei Biker

Über diese Konstellation habe ich in einem weiteren Artikel über die Ereignisse dieses Tages auf dem Ehrenfriedhof Sowjetischer Kriegstoter berichtet.

Einige Zitate aus der Rede Dimitrij Isaevs, des Priesters der russisch orthodoxen Kirche Bielefeld-Paderborn:

«Beginn der Übersetzung aus dem Russischen»

– „Wir sind Nachkommen derer, die hier liegen [auf dem Friedhof begraben]. Wir sind Nachkommen derer die ihre Leben für uns gegeben haben.“

– „Wir [Bürger der Ukraine und Russlands] sind ein Volk und wir werden nicht müde davon zu berichten.“

– „Unsere Väter, die hier [beerdigt] liegen, hätten auch gerne ihre Frauen gesehen, ihre Kinder. Auch sie hätten gerne das Zwitschern dieser Vögel gehört. Sie können es aber nicht.“

– „Lerne deinen Feind so zu lieben, wie du dich selbst liebst. Den Feind lieben zu lernen ist schwer, aber es muss sein. In ihm die Gestalt Gottes sehen! Ihm auf die Beine zu verhelfen. Und auch ihm helfen in uns die Gestalt Gottes zu sehen. […] Ihm sehen zu helfen, dass wir alle Brüder sind.“

– „Ich habe mir gestern nochmal die Zahlen angeschaut. Es ist furchtbar. Furchtbar, wie viele Menschenleben ausgelöscht wurden. Wie viele Menschen wollten leben. Wie viele Menschen atmen wollten, lieben wollten. Aber sie sind nicht tot. Solange wir leben, sind sie nicht tot. Solange die Erinnerung an sie getragen wird – und sie wird getragen werden, egal was passiert!“

«Ende der Übersetzung»

Einige Zitate aus der Rede von Aleksej Dronov, dem Generalkonsul Russlands in Bonn:

«Beginn der Übersetzung aus dem Russischen»

– „Wir gingen davon aus, dass vieles der Vergangenheit angehört, doch es wurde zu unserer Gegenwart.“

– „Es ist so, als ob die hier Beerdigten uns sagen wollen: „Jetzt seid ihr an der Reihe, euch als Gestalten Gottes zu beweisen. Zu beweisen, dass ihr euch euer Mensch-Sein verdient.“

– „Ich denke, es ist gerade an der Zeit, dass wir uns an die Worte erinnern, die Wladimir Vysozkij [russischer Musiker und Schauspieler, 1938-1980] einst sagte: „Unsere Verstorbenen werden uns niemals alleine im Unglück lassen, sie sind unsere Wachposten“.“

– „Ich sage es immer und immer wieder und möchte es auch euch heute nochmal sagen: Lasst uns die zwei Begriffe nicht verwechseln, denn sie überschneiden sich nur teilweise. Dies sind die Begriffe „Russische Föderation“ und „Russland“ [Rossija]. „Rossija“ ist ein historischer Begriff und weitaus breiter gefasst als der Begriff „Russische Föderation“. […] In der Tat kann jedes Volk, welches Jahrhunderte mit uns lebte, sich als Teil dieser Zivilisation fühlen und das mit Recht.“

– „Vor uns liegt eine historische Mission, wir sind Volksversöhnende. Sobald wir ein Auseinanderreißen sehen, sobald wir Streit sehen, sobald wir ein Versuch sehen zu zerteilen, sobald wir den Versuch eines Volkes sehen, sich über ein anderes Volk zu erheben, den Versuch eines Menschen, sich über einen anderen zu erheben, dann sehen wir die gesamte klassische Palette teuflischer Werkzeuge. Meine Freunde, dies ist das zuverlässigste Kriterium – schaut euch einfach an, welche Methoden diejenigen anwenden die versuchen uns weiß zu machen, dass sie für Frieden und Demokratie kämpfen, schaut euch ihre Methoden an. Es ist unendliche Lügerei. Es ist die unendliche Idee ihrer Überlegenheit. Irgendwelchen verrückten Stolzes. Es ist grenzenloser Hass, der inzwischen bestialische Maße erreicht hat.

Was können wir dem entgegensetzen? Wir können dem das entgegensetzen, was unsere Vorfahren dem immer entgegengesetzt haben. Und zwar ist dies der Glaube an einen guten Anfang, der Glaube an Gott und daran, dass Gott mit uns ist.“

– „Bewahrt die russische Sprache. Lasst uns alles dafür tun damit sie in Deutschland nicht vergessen wird. […] Einfach nur weil hier Hunderttausende von Menschen leben die sie sprechen. Sprache ist das, was uns alle vereint, das, was die Sphäre unseres Daseins bildet.“

«Ende der Übersetzung»

Im Anschluss trugen zwei Damen auswendig gelernte Gedichte vor. Eine von Ihnen schrieb ihr Gedicht selbst. Darin geht es um Krieg, um Söhne und ihre Mütter auf beiden Seiten der Front, und darum, dass sie Gott bittet, ihr ihren Wunsch zu erfüllen und den Krieg zu beenden.