Von Peter Gross

Bei meiner Ankunft fährt ein Polizeibulli den Parkplatz entlang. Am Eingang steht ein weiteres Polizeiauto, innen sitzen zwei junge Beamte, beide haben ihre Türen offen.

Kurz nach dem Eingang zum Friedhof legt der Vorsitzende des größten deutschen Vereins für russische Kultur, dem Forum Russische Kultur Gütersloh e.V., einen Kranz am bereits mit Blumen übersätem Obelisk nieder.

Seit Februar 2022, dem Zeitpunkt also, als Russland erklärte, den seit 2014 andauernden ukrainischen Bürgerkrieg beenden zu wollen, hat der Verein wegen den deutschen Einreisebeschränkungen für russische Menschen seine Tätigkeit bis auf wenige Veranstaltungen eingestellt.

Obwohl der Kulturverein fast ausschließlich aus Mitgliedern hiesigen Ursprungs besteht, sind an dem heutigen Vormittag auch zahlreich aus der ehemaligen UdSSR zugewanderte Deutsche unter den Anwesenden.

Herr Dr. Günter Bönig, Der Vorsitzende des Kulturvereins, kann in seiner Rede im Anschluss der Kranzniederlegung Deutsche beide Lager erreichen, die Einheimischen wie auch die „Zurückgekehrten“, was die Menschenmenge immer wieder mit Applaus bestätigt.

 

Hier ein paar Zitate aus Dr. Bönigs Rede:

  • – „Die Bevölkerungen haben noch nie einen Krieg gewollt, denn sie hatten immer die schrecklichen Folgen zu tragen. Kriege führen die Regierungen auf Kosten der Bevölkerung, in jeder Hinsicht.“
  • – „Bevor die amerikanischen Militärberater kamen 2014, gab es viele Fälle von Meuterei bei der ukrainischen Armee im Kampf gegen die Donbass-Separatisten, weil unter diesen auch Verwandte und Freunde waren.“
  • – „Es ist ein moralisches Desaster, dass gerade auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges deutsche Waffen den Krieg entscheiden sollen.“
  • – „Sind die 27 Millionen Kriegstoten durch den Nazi-Vernichtungskrieg von 1941 bis 1945 vergessen? 27 Millionen sind nicht nur eine Zahl, es sind 27 Millionen Einzelschicksale, ein Drittel der heutigen deutschen Bevölkerung.“
  • – „Von deutschem Boden sollte nie wieder Krieg ausgehen – innerhalb einer Woche wurde im März 2022 das 70-jährige Prinzip deutscher Politik „keine Waffen in Spannungsgebiete“ gekippt, […] Wir sind natürlich keine Kriegspartei, wir liefern ja nur Waffen.“
  • – „Deutschland stünde es an, seine Dankbarkeit für die durch die Sowjetunion ermöglichte Wiedervereinigung durch Friedenspolitik für Osteuropa zu zeigen.“
  • – „[…] jetzt plötzlich, im Winter 2023, erklärt sie [Merkel], dieses Abkommen [Minsk I und II] seien nur Taktik gewesen, um der Ukraine Zeit für die Aufrüstung gegen Russland zu geben.“
  • – „Deutschland war in diesem Prozess also nicht ehrlicher Makler, sondern Handelnder einer Anti-Russland Koalition. Ich schäme mich für diese Politik.“
  • – „Das Forum Russische Kultur hat gleich im Februar 2022 den Angriff Russlands auf die Ukraine in aller Schärfe verurteilt und dessen sofortige Beendigung gefordert, damit nicht noch mehr Menschen sterben. Allerdings auch eine aktive Diplomatie zur sofortigen Beendigung dieses schrecklichen Bruderkrieges gefordert.“
  • – „Diplomatie hätte schon vor Kriegsbeginn greifen müssen, aber die USA haben Verhandlungen mit Russland über eine Sicherheitszone kategorisch abgelehnt.“
  • – „Wie jetzt öffentlich klar geworden ist, fanden Anfang März 2022 in Ankara Friedensverhandlungen statt, Selenskij wurde vom Westen zum Weiterkämpfen angehalten.“
  • – „Friedensverhandlungen sollten zwischen den Kriegsparteien im Sinne ihrer Völker geführt werden, nicht aber durch ausländische Mächte.“
  • – „Dabei kann Diplomatie Konflikte lösen und hat auch in der Vergangenheit oft Konflikte gelöst.“
  • – „Diese Diplomatie brauchen wir auch heute. Denn jeder neue Tag des Krieges fordert viele weitere Menschenleben.“

Nach seiner Rede fing sich Dr. Bönig prompt negative Kritik vom Zeitungsreporter des Westfalen-Blatt, ein. Seinem Geschmack nach ließ der Vorsitzende des Kulturforums das Wirken Russlands in diesem Konflikt aus. Die schlagfertig eingebrachte Antwort von Herrn Dr. Bönig interessierte den Reporter wenig, immer wieder versuchte er zu unterbrechen und verabschiedete sich dann mit der politisch korrekten Floskel „Dann bedanke ich mich und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Tschüss.“

Seinen Beitrag betitelt der Journalist inzwischen als „Kritik an roten Fahnen mit Leninkonterfei„. Im Beitrag selbst ist die Rede von „…vielen roten Fahnen, auf denen Lenins Konterfei zu sehen sei…“. Auf meinen Bildern von der Veranstaltung zähle ich fünf rote Fahnen und nur auf einer von ihnen ist Lenin zu erkennen. Die weiteren Fahnen: eine UdSSR Fahne, drei mit Text in weißer Schrift. Im Übrigen hat der Arbeiter in aller Welt anscheinend vergessen, wie sich seine Arbeitswelt durch Lenin verändert hat?

Weitere Ungereimtheiten des Artikels des Westfalen-Blattes: Auch die Teilnehmerzahl wurde dort großzügig abgerundet auf „über 100“. Meiner Überschlagung nach waren zu dieser Zeit etwa 200 Menschen auf dem Friedhof. Und dann wurden auch noch die Teilnehmer allesamt zu „Russlanddeutschen“ umformatiert, obwohl es das gütersloher Kulturforum war, das seine über 400 Vereinsmitglieder (Quelle, Stand 01.01.2020), fast ausschließlich einheimische Deutsche, zur Kranzniederlegung geladen hatte.

 

Die friedliche Veranstaltung ist vorbei. Mein Blick in Richtung Ausgang offenbart ein kurioses Bild: Aus der Richtung des Polizeiwagens spielt russische Musik zu Ehren des Großen Sieges. Beim Vorbeigehen schloss sich dann der Zwiespalt: die Musik kam aus einem Lautsprecher von drei Bikern, die es sich neben dem Streifenwagen auf einer Parkbank gemütlich gemacht haben. Die Polizisten schlossen trotz inzwischen noch wärmerer Temperaturen dann doch lieber die Autotür durch die das weltbekannte Lied „Der Tag des Sieges“ des Autors Wladimir G. Charitonow in Dauerschleife auf sie einwirkte.