Ein vergessener amerikanischer Held hilft Hannah Arendt, Marc Chagall und Anna Seghers bei der Flucht vor den Nazis. Die Serie »Transatlantic« zeigt, dass es auch in düstersten Zeiten Hoffnung gibt.

Marseille 1940: In einer eleganten, etwas verwahrlosten Villa am Rande der Stadt schmeißt der deutsche Künstler Max Ernst eine mondäne Geburtstagsparty. Er selbst trägt einen Kopfschmuck aus lila Federn, andere Gäste Hüte aus Papier, Masken, absurde Brillen. Eine Frau sieht mit ihrer Kopfbedeckung, die an eine Hand erinnert, aus, als sei sie einem der surrealistischen Gemälde Ernsts entstiegen. Es wird getafelt, geredet, getanzt und geliebt, als gäbe es kein Morgen. Fast könnte man vergessen, dass sämtliche Partygäste auf der Flucht vor dem Faschismus sind. Dass sie ihre Heimat verloren haben, in Lebensgefahr schweben und in Südfrankreich darauf warten, endlich in Richtung Amerika, in Richtung Sicherheit aufbrechen zu können.

Die Netflix-Serie »Transatlantic«, in der diese Szenen zu sehen sind, spielt 1940, der Zweite Weltkrieg war noch jung, es war längst nicht absehbar, dass Hitler-Deutschland ihn verlieren würde. Im Gegenteil: Alles deutete darauf hin, dass der deutsche Vormarsch kaum aufzuhalten sein würde. Die USA waren noch neutral und hielten sich aus dem Kriegsgeschehen heraus. Gleichzeitig überrannte die Wehrmacht ihre Nachbarn: erst Polen, dann Norwegen, Dänemark, Belgien und die Niederlande. Frankreich kapitulierte im Juni 1940 und wurde aufgeteilt: Im Norden und Westen regierten die deutschen Besatzer, im Süden das von den Nazis installierte Vichy-Regime. In Italien, Spanien, Portugal und Griechenland herrschten faschistische Diktaturen.

»Transatlantic« spielt also in einem der finstersten Zeitabschnitte der europäischen Geschichte – und trotzdem wird gelacht und getrunken? Nicht nur am Abend der Party, auch sonst tragen die Menschen hier elegante Kleider und Anzüge, sie philosophieren und schlendern durch den verwilderten Garten der Villa, baden nackt im Pool und trinken Rotwein; und über allem scheint die Sonne Südfrankreichs mit ihrem unvergleichlichen Licht, das selbst die größte menschliche Verkommenheit noch in einen goldenen Schimmer taucht. Dieser scheinbare Widerspruch ist das perfekte Terrain für die deutsch-amerikanische Schriftstellerin und Serien-Produzentin Anna Winger, die hinter dem Projekt steht. Mit Figuren auf der Flucht kennt Winger sich aus, sie bevölkern ihre preisgekrönten Serien, die schon immer die Welt ihrer Protagonisten auf den Kopf stellten.

In »Transatlantic« wird die gleichgeschlechtliche Liebe zur Chiffre für die innere Freiheit, die die Figuren sich trotz – oder gerade wegen – schwierigster Lebensumstände nehmen. In diesem Sinn ist die Serie eine historische Utopie, nicht auch zuletzt vor dem Hintergrund der erneuten Fluchtwelle, die der Krieg in der Ukraine auslöste. Anna Winger sagt es so: »Ich wollte eine Geschichte erzählen, die von der Dunkelheit ins Licht führt.«

Quelle: https://www.spiegel.de/kultur/netflix-serie-transatlantic-von-der-dunkelheit-ins-licht-a-35fe3b09-ce0d-4cc6-bb3e-163ab74270ae