Deutlich wie nie zuvor hat sich Polens Premier Morawiecki jüngst in Washington vom „alten Europa“ distanziert und Warschau als neues Kraftzentrum Europas an Amerikas Seite gepriesen. Fast zeitgleich ging Frankreichs Präsident Macron in Peking auf Distanz zu den USA und forderte eine eigene europäische Haltung gegenüber Diktaturen. Und Deutschland? Sitzt zwischen den Stühlen.

Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki ließ bei seinem Besuch in Washington am 11. April nichts unversucht, sein Land als europäischen Musterschüler zu präsentieren. „Amerika ist wie zu Zeiten des Kommunismus zu einer Quelle der Hoffnung für ein freies Europa geworden. Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg in der Ukraine nicht nur der Anfang vom Ende des russischen Imperialismus ist, sondern auch der Beginn der Erneuerung der transatlantischen Gemeinschaft“, sagte er.

Morawiecki verwies auf Rüstungsaufträge, die die polnische Armee zu einer der modernsten der Welt machen sollen, und ließ nicht unerwähnt, dass dank amerikanischer Investitionen in Polen gerade neue Kernkraftwerke entstünden. Er schaffte es, ohne Berlin beim Namen zu nennen, sich gleich zweimal sehr deutlich vom deutschen Nachbarn zu distanzieren, der sich gerade anschickte, seine drei letzten Kernkraftwerke abzustellen, und dessen Armee nach wie vor ein bedauernswertes, weil unterfinanziertes Bild abgibt.

Dann folgte ein Satz, der die mühsam aufgebaute Fassade eines einhelligen Europas vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine einmal mehr ins Wanken brachte: „Das alte Europa glaubte an eine Übereinkunft mit Russland, das alte Europa irrte.“ In Richtung Vizepräsidentin Kamala Harris gerichtet, fügte Morawiecki hinzu: „Aber hier ist das neue Europa – das Europa, das sich daran erinnert, was russischer Kommunismus war. Und Polen ist der Anführer dieses Europas.“

Selten zuvor hatte Polen seinen Anspruch, europäische Führungsmacht zu sein, so deutlich formuliert. Am Tag zuvor hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der derzeit außenpolitisch ehrgeizigste Vertreter des „alten Europas“, in China für einen Paukenschlag gesorgt.

Europa sollte sich im Konflikt um Taiwan nicht an die Seite der USA stellen, hatte Macron im Beisein des chinesischen Präsidenten Xi gesagt. Europa müsse „aufwachen“. Macron: „Das Schlimmste wäre zu denken, dass wir Europäer bei diesem Thema zu Mitläufern werden und entweder dem amerikanischen Duktus oder einer chinesischen Überreaktion folgen müssen.“

Das Beben ließ lange auf sich warten: Wenn sich Europa in der Taiwan-Frage nicht auf die Seite Chinas oder der USA stelle, dann sollten sich die USA im Ukraine-Konflikt vielleicht auch nicht auf die Seite Europas stellen, so US-Senator Marco Rubio in einem Video auf Twitter.

Der Riss, den die Äußerungen von EU-Politikern wie Morawiecki und Macron sichtbar machten, er ließ sich auch nicht mehr durch die flinken transatlantischen Bekenntnisse deutscher Politiker überdecken.

„Ich würde eher von innereuropäischen Zerklüftungen statt eines klaren Risses sprechen“, schränkt Kai-Olaf Lang ein, Experte für Ost- und Mitteleuropa an der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP). „Nordeuropäische Länder wie Finnland oder Schweden sind nahe an der baltisch-polnischen Position. Andererseits gibt es in Mittel- oder Südosteuropa differenzierte Positionen, also auch viel Zurückhaltung, was die Unterstützung der Ukraine betrifft, und in manchen Ländern geradezu russophile Strömungen. Eine klare Teilung in ‚altes‘ und ‚neues‘ Europa, wie es Morawiecki äußerte, lässt sich so nicht ausmachen“, so Lang zum RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Erinnerung an Rumsfeld 2003

Egal, wo der Riss verläuft, er beschäftigt in Amerika bereits die Öffentlichkeit. „Das Paradigma ‚altes Europa‘ versus ‚neues Europa‘ ist zurück“, stand am 17. April in einer Analyse in der „Washington Post“. Erinnert wurde dabei an eine zwei Jahrzehnte alte Äußerung des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld.

Der hatte am 24. Januar 2003, also zwei Monate vor Beginn der vom US-Präsidenten George W. Bush angestoßenen Irak-Invasion, auf die Frage eines niederländischen Journalisten nach dem Widerstand Europas gegen diesen Krieg geantwortet: „Sie denken an Europa als Deutschland und Frankreich. (…) Ich tue das nicht. Ich denke, das ist das ‚alte Europa‘. Wenn Sie heute das gesamte Nato-Europa betrachten, verlagert sich der Schwerpunkt nach Osten. Und es gibt viele neue Mitglieder.“

Die von Rumsfeld beschworene Dichotomie Europas war natürlich als Provokation gemeint – verfehlte bei den Europäern aber ihre Wirkung. Denn einerseits umfasste die „Koalition der Willigen“, die damals den auf windigen Behauptungen der US-Regierung basierenden Krieg unterstützte, auch Staaten des sogenannten „alten Europas“, so zum Beispiel Spanien, Italien und Großbritannien.

Andererseits ist heute selbst Amerika überzeugt, dass die Bedenken der „Alteuropäer“ in Berlin und Paris durchaus berechtigt und der Krieg ein kolossaler Fehler war, der Hunderttausende Menschen das Leben kostete und eine ganze Region in die Instabilität stürzte.

Wenn Mateusz Morawiecki also heute ein Versagen der Westeuropäer beschreibt, hat er mit „altes“ versus „neues Europa“ zwei historisch verbrannte Begriff gewählt – liegt aber in der Sache richtig. „Europas Mitte bewegt sich ostwärts“, äußerte auch Bundeskanzler Olaf Scholz am 29. August 2022 in seiner Rede an der Prager Karls-Universität. „Der Krieg in der Ukraine war ein Schock für einen selbstzufriedenen Kontinent“, heißt es in der „Washington Post“, „und es scheint, als seien die Länder an der Peripherie Russlands besser darauf vorbereitet gewesen“.

„Scholz hat recht“, so das Urteil des renommierten Historikers Timothy Garton Ash von der Universität Oxford Anfang 2023 in der „New York Times“. „Die Stimmen der Mittel- und Osteuropäer werden in den Europaräten mehr gehört und ernster genommen, und es liegt eine große Osterweiterungsagenda auf dem Tisch.“

Polen als neues Kraftzentrum

Eine Entwicklung, die der Politologe Kai-Olaf Lang so erklärt: „Unbestreitbar sind Fragen der Sicherheitspolitik wichtiger geworden. Polen als ‚regionale Führungsmacht‘ und als Pfeiler der Nato-Ostflanke hat hierdurch an Bedeutung gewonnen und ist zu einem neuen Kraftzentrum innerhalb einer ‚multipolaren‘ EU aufgestiegen.“

Was daran liegt, dass „Warschau die Gefahren, die von Moskau ausgehen, sehr früh richtig eingeschätzt hat, zudem früh Fürsprecher einer Heranführung der Ukraine an EU und Nato war“. Doch auch die grundsätzlich transatlantische Ausrichtung Polens spielt eine Rolle, „denn Warschau pflegt historisch ein besonderes Verhältnis zu den USA, eine strategische Partnerschaft, die von diplomatischer Zusammenarbeit über Sicherheits- und Militärkooperation bis zur Energiepolitik reicht“, so Lang.

Eine gehörige Portion Deutschland- und EU-Bashing

Zu bedenken gibt der Wissenschaftler jedoch, „dass manche Äußerungen polnischer Politiker auch vor dem Hintergrund des Wahlkampfes gesehen werden müssen und in ihrer Schärfe an anderer Stelle wohl so nicht gefallen wären“.

Tatsächlich muss sich die in Polen allein regierende national-konservative PiS-Partei im Herbst dem Wählervotum stellen – und zu ihren bewährten Mitteln zählt seit jeher eine gehörige Portion Deutschland- und EU-Bashing. „Klar ist aber auch, dass die polnische Regierung eine Haltung ausdrückt, die in der Bevölkerung des Landes populär ist“, so Lang.

Was auf der anderen Seite aber auch für Frankreich gilt. „Frankreichs Abnabelungsagenda von den Vereinigten Staaten ist nicht neu. In Paris sieht man Europa als souveränen Akteur in der Welt, auch gegenüber den USA“, erklärt Kai-Olaf Lang von der SWP.

Deutschland sitzt zwischen den Stühlen

Doch wo positioniert sich Deutschland – zwischen Amerika-Verbundenheit und Abnabelung, zwischen Diktaturenkonfrontation und Brückenbau?

Lang: „Deutschland möchte zwar auch mehr ‚Autonomie‘ der EU, aber stets im Kontext des Westens. Die Wahrung der transatlantischen Partnerschaft und die Stärkung der Nato gelten als Geschäftsgrundlage für den Ausbau insbesondere der sicherheits- und verteidigungspolitischen Anstrengungen der EU. Deutschland befindet sich hier nicht nur geografisch, sondern auch politisch zwischen zwei Polen.“