Als „den Berliner Patient“ haben ihn die russische öffentlich-rechtliche betitelt, und wenn der Präsident ihn mal selbst erwähnen muss, dann niemals beim Namen, vielleicht nur noch als „diese Person“. Soll der Unnennbare so böse, wie Lord Voldemort, oder unbedeutender als eine Mücke erscheinen, die nicht mal einen Namen verdient? Eine stumpfe Schnauze und ein langes amerikanisches Rückgrat, so kam Nawalny bei dem großen Dichter Limonow an. 

Bei der ersten krassen Kurve Nawalnys Aufstiegs, die mir zu Ohren kam, kam auch gleich das Vergiftungsthema ins Spiel: der damalige Jungliberale verglich südländische Einwanderer mit Kakerlaken, die mit einem Insektizid abgetötet gehören. Das Verfahren für seinen Parteirauswurf war noch am Rollen, als gründete der frisch-gebackener Populist  eine völkische Bewegung „NAROD“, die  Jahr für Jahr am 6. November, dem Tag der Volkseinheit schwarz-gold-weissen Reichsflaggen bei dem nationalem Russenmarsch mitmarschierte. Parallel absolvierte Alexei mit zukünftigen Protestleadern der tunesischen, ukrainischen und anderen Farbrevolutionen das «Yale World Fellows» Program. Als Putins Dienste die russische Rechte zu Boden schlugen, gründete Nawalny seine Stiftung zur Korruptionsbekämpfung. Wie Terrorbekämpfung zum Terror gehört, sind die Beziehungen zwischen der Korruptionsbekämpfung und der Korruption an sich nicht eindeutig. Im Jahre 2013, als Nawalny als Gouverneuersberater im Kirower Staatsgebiet tätig war, gründete er eine Firma, die das beim staatlichen Holzbetrieb eingekauftes Holz zu höheren Preisen weiter vermarktete. Dafür wurde er drei  Jahre später wegen Unterschlagung zur Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezeichnete zwar den Prozess als willkürlich geführt, erkannte dahinter aber keinen politischen Hintergrund. Eine weitere Anklage erhob das französisches Kosmetikkonzern Ives Rocher: so vermittelte eine Offshore Firma, auf den Namen Nawalnys Bruders Olegs registriert, logistische Dienstleistungen zwischen der russischen Post, bei der Alexei hochrangig angestellt war, und ihrer Tochtergesellschaft zu Ungunsten Letzterer. Die Brüder wurden wegen Betrugs schuldig gesprochen und zur dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Alexei kam gerade zum zweiten Mal auf Bewährung frei. Wieder stufte das europäisches Gerichtshof die Entscheidung als unfair, doch nicht gleich politisch motiviert ein. Ob Nawalny in dem oder anderen Fall den russischen Gesetz verletzte, oder ihn nur auf einer geschickten Weise umging, erzeugen die Machenschaften keinen feinen Aroma. 

Beim behandeln des Vergiftungsfalls betritt man einen wackligen Grund, wie ein Neuling, „Nowitschok“ aus dem Russischen, dennoch gilt ein versuchter Mordschlag mittels eines Nervenkampfstoff dieser Gruppe so gut wie auszuschließen. Der Giftstoff ist dafür bekannt allerlei Spuren aufzuweisen, die bei Nawalnys Vergiftung nirgendwo zu entdecken sind. Die obszöne Anekdote vom blutigen Tyrannen, der Unterhosen vergiftet, alleine zu besprechen ist unter Würde der Leserschaft unserer seriösen Zeitung. Der mutmaßliche Tyrann hätte weder Räson noch jegliche Verpflichtung den bewusstlosen seines Untertan ins Ausland transportieren zu lassen. Dennoch zeugen die von den Charité – Ärzten aufgefundenen Lithium-Spuren für eine Version, die ebenso obszöne Züge aufweisen kann. In der Flasche, mit der gewisse Mademoiselle M. Pewtschich rumgedoktert hat, könnte Lytium-Oxibutirat sein, eine toxische Sex-Droge, im Halblichmileau als „J“ bekannt. Mit ihr verbrachte Nawalny die Nacht vor dem Vorfall, nicht mit der Gattin, „gebügelt und fettfrei“, so wie sie Limonow schilderte. Das weitere ist offenkundig: nach der Entlassung aus Charité hat Nawalny quer durch Deutschland gereist und sich nicht sofort anhand der Bewährungsauflagen unmittelbar nach Moskau heimbegab, dafür am Flughafen festgenommen. 

„Es ist vonnöten, Russland einzufrosten“, — pflegte der reaktionäre Zarenminister Pobedonoszew zu sagen. Beim Aufbruch der Tauwetter, grau und matschig, wie heute, bin ich mit dem Alten d‘accord. Da die Pertowka-Straße von der Polizei versperrt war, schlugen wir den Weg zur Demo durch Hinterhöfe des mittelalterlichen Petersklosters. Die Menschenmenge auf dem Puschkin-Platz ist unübersehbar: Moskauer Intelligenzija, Bourgeoise, Studenten, davon einige warfen Schneebällchen Richtung Polizei, die scherzend Masken verteilte. Die Lage schien entspannt zu sein, die Regierung kam wohl nicht auf die Idee, die Versammlung wegen Infektionsschutz zu unterbinden. Auch keine winterliche Wasserwerfer waren zu sehen, nicht so, wie im freien Westen. 

Ich sprach einen Demonstranten an, was er von Nawalny halte. „Schwierig“, – antwortete der Typ, ein Jurastudent, – „Die Figur ist in aller Munde, dennoch zeigt er keine klare Kante an keiner wichtigen Stelle, nicht mal zur russischen Grundfrage, wessen Krim ist!Gut, quasi so ein Ermittler-Amateur, man verstehe aber von sich, seine Insiderinfos entspringen anderen, durchaus professionelleren Quellen. Unter Zoomers kommt Putin nicht an, ist halt nicht Tik-Tok – tauglich. Über ihn zu schimpfen ist heutzutage die am wenigsten gefährliche Sache. Dazu noch diese Pandemie, die Fake-Pandemie“, – meinte er sehr zu meiner Freude, – „ Studium, alles offline, weder Rave noch Fußball. Jetzt mal Dampf raus!“

Die aus der konservativen Ecke angekündigten Gegenproteste sind ausgefallen. „Heutzutage traut sich keiner mehr sich gegen Nawalny zu stellen. Alle Medien, auch die aus der Staatlicher Hand finanzierten, machen eine unterschwellige Propaganda für ihn,“ – klärte mich am Abend die unter dem Namen das Grau-Vialette bekannte Redaktorin des Internetportals knife.media auf. „Die neuaufkommende Meinungsdiktatur?“ „Vielleicht!“ An der Stelle meldete man, Jugendliche hätten Polizei am Strastnoi Boulevard angegriffen, es gibt Verletzte. Wir machten uns hin. In der aufkommenden Dunkelheit sah ich andere Gestalten,  als unterm Tageslicht. Nicht mehr mondäne Metropole, die sich ein Abendessen zu Hundert Euro ohne nachzudenken leistet, war auf der Straße. Billiggekleidete begeistertes Volk, das man sonst im Stadtzentrum nicht sieht. „Regierung auf den Messer! Regierung auf den Messer!“, – schrie die Gedränge. Kinder der kaukasischer und asiatischer Einwanderer, Fußballhooligans, einige nazihaft aussehend, marschierten Schulter an Schulter. Der Angriff ließ auf sich nicht warten. Hiebe fingen an zu regnen. Einige Protestierenden vielen ins Schnee, andere flohen, die Bereitschaftseinheiten kamen aber überallher. Blut im Schnee. Polizeistiefeln. Provokationssumpf. Die evigrussische Geschichte.