Wir haben mit Arye Sharuz Shalicar über Antisemitismus damals und heute gesprochen und ihn gefragt, ob es Hoffnung auf Frieden im Nahostkonflikt gibt.

Arye Sharuz Shalicar ist als Sohn iranischer Juden in Berlin aufgewachsen – erst im beschaulichen Spandau, dann im weniger beschaulichen Wedding. Als Jugendlicher wurde Shalicar angegriffen und bedroht, weil er Jude ist. Er schloss sich einer Gang an und wurde Rapper und Mitglied der Crew Berlin Crime. Er zog mit Sprühdosen durch die Stadt, taggte Häuserwände voll und kollidierte mit dem Gesetz.

Zu seinen Freunden gehörten MC Bogy, er kollaborierte mit Frauenarzt. Als junger Mann wanderte Shalicar nach Israel aus, studierte und ging zur Armee. Er schrieb ein Buch über sein Leben, das im Moment verfilmt wird.

Arye Sharuz Shalicar läuft gerade mit der Marine aus, als er ans Telefon geht. Im Hintergrund sind laute Funksignale zu hören und das Meer. Seit Tagen feuert die Hamas Tausende Raketen auf Israel, die technisch überlegene israelische Armee reagiert mit Angriffen im Gazastreifen. Der aktuelle Konflikt hat bereits über 250 Menschen das Leben gekostet, mehrheitlich im Gazastreifen. Palästinenser werfen Israel die hohe Zahl ziviler Opfer vor, Israel bezichtigt die Terrororganisation Hamas, Zivilisten bewusst als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen.

VICE: Arye, in Deutschland wird gerade sehr heiß diskutiert, was in Israel passiert. Einige Deutsche geben Israel auch Ratschläge. Was denkst du darüber?
Arye Sharuz Shalicar: 
Die Deutschen denken auf vielen Felder, immer alles besser zu wissen. Ob es um Fußball geht oder um Corona. Und eben auch beim Nahostkonflikt. Dabei wird oft vergessen, dass in diesem Konflikt auch andere Länder eine Rolle spielen, der Iran, Irak, Ägypten. Es geht immer nur um Israel, immer wieder. Manche Deutschen wenden sich mit der historischen Schuld ihrer Großväter und Urgroßväter auf den Schultern diesem Konflikt zu und meinen, nun Israel zurechtweisen zu müssen. Sie verpacken ihren Antisemitismus als Israelkritik, sie wollen ihn reinwaschen.

Deine Eltern sind aus dem Iran nach Deutschland geflohen, du selbst bist in Berlin aufgewachsen, hast hier Antisemitismus erleben müssen. Was fühlst du, wenn in diesen Tagen auf deutschen Straße judenfeindliche Parolen gebrüllt, wenn Israel-Flaggen verbrannt und Synagogen angegriffen werden?
Ich bin wütend. Ich habe das schon in meiner Jugend vor 25 Jahren erlebt – am eigenen Leib. Ich hatte immer viele muslimische Freunde, aber ich habe auch muslimischen Antisemitismus erlebt. Dieser aggressive Hass gegen Juden, oft nicht mal religiös motiviert, den sie von zuhause mitbekommen haben oder von der Straße.

Es gibt Deutschland ja nicht nur unter Muslimen Antisemitismus, sondern leider quer durch alle Milieus. Abseits davon: Fehlt in Deutschland manchmal die Empathie für die Situation Israels?
Es gibt in Deutschland so ein paar seltsame Schlagworte, zum Beispiel „Spirale der Gewalt“. Da wird eine Terrororganisation wie die Hamas gleichgesetzt mit einem freien, demokratischen Staat wie Israel. Wir wehren uns gegen Terror, wir haben uns die Raketen aus dem Gazastreifen nicht herbeigewünscht. Da greifen uns Menschen an, die als Märtyrer sterben wollen. Manche wollen das nicht verstehen. Sind sie naiv, dumm oder böswillig? Ich weiß es nicht.

Wie geht es dir und deiner Familie im Moment, hast du Angst um deine Kinder?
Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben gesehen wie meine Tochter Michelle zittert. Sie ist sechs Jahre alt. Am ersten Abend des Raketenbeschuss ging die Sirene an, sehr laut, Riesenalarm. Michelle hat nicht verstanden, was passiert. Ich habe sie genommen, bin mit ihr ins Bunkerzimmer gegangen. Und dann habe ich ihr erklärt, dass es draußen Menschen gibt, die nicht wollen, dass wir hier sind. Die uns töten wollen. Am nächsten Morgen bin ich als Reservist eingezogen worden, meine Tochter sah mich in Uniform und guckte mich mit großen Augen an. Ich versprach ihr, dass ich sie beschützen werde. Das ist hart, so etwas einem Kind zu erklären. Was haben wir als Sechsjährige in Deutschland gemacht? Wir haben auf der Straße Fußball gespielt. Was wussten wir schon von der Welt und von Kriegen. Meine Eltern wohnen nah am Gazastreifen, 100 Meter von ihrem Haus entfernt ist eine Rakete eingeschlagen.

Die israelische Armee wird im Moment auch viel kritisiert. Für den Tod von Zivilisten, aber zum Beispiel auch für den Beschuss eines Hochhaus in Gaza, in dem unter anderem Journalisten untergebracht waren. Wie gehst du mit dieser Kritik um?
Jeder hat natürlich das Recht, uns zu kritisieren. Und natürlich darf die Presse nachfragen, was da eigentlich passiert ist, muss sie auch. Wir sind im mittlerweile vierten Krieg gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad. Islamischer Dschihad, da muss man nicht viel erklären, der Name sagt alles. Es sollte mittlerweile jeder wissen, dass die nicht aus offenen Feldern schießen, nicht aus Militäreinrichtungen, nicht aus Kasernen. Um Kasernen sind eigentliche Zäune. Das sind militärische Ziele, wenn es zu Kriegshandlungen kommt.

Aber die Hamas hat keine Kasernen. Die sind eingebettet in der Zivilbevölkerung, die stellen ihre Raketenabschussrampen neben Häusern oder Bürotürmen auf. Sie verstecken sich in Tunneln, zu denen Zivilisten keinen Zutritt haben. Und sie waren so dreist, internationale Medien als Schutzschild zu nutzen. Diese Medien waren nicht das Ziel unserer Aktion, sondern die Terrorbüros der Hamas, die im gleichen Büroturm untergebracht waren. Deswegen haben wir alle Journalisten vor dem Angriff angerufen und gewarnt. Sie konnten das Gebäude verlassen, Kameras aufbauen und den Angriff filmen. Welche Armee der Welt ruft an, bevor sie angreift?

Wie geht ihr mit der Kritik um, dass bei Aktionen der israelischen Armee auch Zivilisten sterben?
Zunächst ist es wichtig, dass die Hamas und der Islamische Dschihad mit ihren Raketen das Feuer eröffnet haben. Jede Demokratie der Welt würde auf solchen Terror reagieren. Zudem sind viele der Raketen, die Israel treffen sollten, in Gaza heruntergekommen und haben Palästinenser getötet. Die Hamas bringt die eigenen Leute um.

Aber was tut ihr, um Zivilisten zu schützen?
Wenn wir einen Angriff vorbereiten, dann warnen wir Zivilisten. Die Hamas nistet sich in Wohnhäusern ein, wir wollen nur die Hamas treffen. Wir werfen vor Angriffen Lärmbomben ab, die keinen Schaden verursachen. Wir nennen das „knocking on the roof“. Das gibt Menschen die Möglichkeit, vor einem Angriff zu fliehen. Jedes zivile Opfer ist eines zu viel. Der Islamische Dschihad und die Hamas wollen Tote, sie wollen diese Bilder, die sie verbreiten können.

Auf Twitter hast du geschrieben, dass viele Journalisten über den Krieg und die israelische Armee schreiben, sich aber nicht bei euch melden und nachfragen.
Nachdem ich das geschrieben habe, haben sich einige Journalisten gemeldet. Das freut mich. Ich will, dass alle Medien ausgewogen und professionell berichten können.

Aus ganz Israel gibt es neben vielen schlimmen Bildern auch Bilder von jüdischen und arabischen Israelis, die sich versammeln und sich weigern, Feinde zu sein. Machen dir diese Bilder Hoffnung, dass der Konflikt bald befriedet werden kann?
Es wird bald Frieden geben, aber es werden Narben bleiben.

von VICE