Der Völkerrechter Anthony Carty über Demokratie und Völker, seine Einteilung in „gute Demokratien“ und „schlechte Demokratien“, das chinesische Modell der Meritokratie und wie China den ­Westen betrachtet.

 

Frage: Der Westen und insbesondere die USA stellen ihr Modell der Demokratie als Maßstab für die gesamte Welt dar. Was aber sagt das Völkerrecht zur Vielfalt politischer Systeme?

Anthony Carty: Ein Grundsatz des Völkerrechts ist seine Neutralität gegenüber den jeweiligen innenpolitischen Ordnungssystemen. Dieser Grundsatz, der dem Prinzip der Souveränität entspringt, ist in Artikel 7 der UN-Charta verankert. Daher ist es für ein Land unangemessen, die innere Ordnung eines anderen Landes zu kritisieren.

Die Vereinigten Staaten wollen Demokratie überall auf der Welt fördern, und es gibt Aktivitäten politischer Stiftungen wie dem National Endowment for Democracy, die in China sowie in verschiedenen afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten aktiv sind. Stellen die Aktivitäten dieser politischen Stiftungen einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung dar?

Carty: Ich denke, sie stellen einen Verstoß dar. Vor sechseinhalb Jahren hatte ich in Hongkong eine Professur für Menschenrechte, Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Universität Hongkong und dann später in Peking. Tatsache ist, dass es viele Organisationen wie das National Endowment for Democracy gibt, die in Hongkong aktiv sind und die wesentlich zur Vergrößerung der Spannungen in Hongkong beigetragen haben. Das ist ein Beispiel für die Ideologie des Liberalismus, als die Vereinigten Staaten entschieden, dass sie im Ersten Weltkrieg intervenieren sollten, um die Welt „save for democracy“, also sicher für die Demokratie zu machen.. Die österreichisch-ungarische und die deutsche Regierung waren autokratisch – offenkundig aber auch Russland, das an der Seite der sogenannten Demokratien stand. Die Problematik der Einmischung im Namen der Demokratie geht auf diese Zeit zurück.

Für die westlichen Mächte, angeführt von den Vereinigten Staaten, spielt das Völkerrecht, wie es in der UN-Charta verankert ist, eine immer geringere Rolle als die sogenannte regelbasierte internationale Ordnung, welche die Werte der liberalen Demokratie verkörpert. Das provoziert eine Krise im internationalen System, wenn der Westen versucht, das Völkerrecht durch die regelbasierte internationale Ordnung zu ersetzen. Und das ist auch ein Problem der Europäischen Union mit Ursula von der Leyen und in Deutschland mit Annalena Baerbock. Meiner Meinung nach stellen sie eine Bedrohung für internationalen Frieden und Ordnung dar. Die Exisz westlicher Werte wird vom Westen als Symbol seiner Überlegenheit über andere betrachtet.

Kann man es auch so sehen, dass der Westen versucht, die Demokratie als Waffe einzusetzen?

Carty: Ja, und ich denke, dass sie es insbesondere auf eine unintelligente Weise versuchen. In der westlichen politischen Theorie, die auf Aristoteles zurückgeht, gibt es eine „gute Demokratie“ und eine „schlechte Demokratie“. In einer „guten Demokratie“ sind die Leute moralisch davon überzeugt, dass der Populismus eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie darstellt. Der konservative deutsche Philosoph Hermann Lübbe sagte, dass der politische Moralismus in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten immer mehr um sich greift. Auf der anderen Seite gilt für den Westen die autoritäre Regierung Chinas als „moralisch schlecht“ und als Autokratie.

Wie sehen Sie die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA? Hier ist die Rede von einem Wettbewerb zwischen Demokratien und Autokratien, womit mit Letzten unter anderem China gemeint ist. Könnte das die Spannungen zwischen den USA und China vergrößern?

Carty: Die Existenz westlicher Werte wird vom Westen als Symbol der Überlegenheit betrachtet gegenüber jenen, die sich nicht teilen. Das ist gefährlicher Moralismus. In einem Artikel in einer deutschen Zeitung über die wirtschaftlichen Verknüpfungen zwischen dem Westen und China stand, dass China viel mehr als der Westen von einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen leiden würde. Ich denke, die Situation in Deutschland könnte ziemlich gefährlich werden, weil moralistische Politiker wie Annalena Baerbock die Natur der Unterschiede in den Beziehungen zwischen Russland und Europa oder China und Europa nicht wirklich verstehen. China ist gegenüber Sanktionen viel verwundbarer als Russland.

Wie schätzen Sie das politische System ­Chinas ein?

Carty: Aufgrund der Erfahrungen, die ich machte, als ich in China lebte, kann ich sagen, dass China eine Meritokratie ist. Auch wenn es nominell ein kommunistisches Regime bzw. ein Einparteienstaat ist, ist es tatsächlich eine Meritokratie, wo rund 90 Millionen Menschen (so viele Mitglieder hat die KP, Anm.) den Präsidenten auswählen und die Minister, die das Land führen. Das ist sehr ähnlich dem System in Deutschland unter den Hohenzollern im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert. Es ist im Grunde genommen eine professionelle Bürokratie. Auch wenn China die Unzulänglichkeiten einer Bürokratie hat wie Korruption, ist es im Grunde genommen ein kompetentes System. Ich mache mir aber Sorgen, wenn ich sehe, wenn in Deutschland oder in der EU Leute wie Baerbock oder von der Leyen in Spitzenpositionen kommen, für die sie nicht qualifiziert sind.

Wie sieht eigentlich China den Westen und die westliche Demokratie.

Carty: China genießt eine Art Schadenfreude, indem es sich über die Inkompetenz und die moralische Spaltung der westlichen Demokratie lustig macht. Die Chinesen beobachten sehr genau, was im Westen geschieht, sie sind sich der zunehmenden Spannungen und der zunehmenden Spaltungen im Westen bewusst. Die Chinesen sind sich sehr bewusst, dass die Vereinigten Staaten und die Europäische Union industrielle und militärische Interessen verfolgt und dass die Bevölkerung insgesamt sehr wenig Ahnung hat, was vor sich geht und durch die Mainstream-Medien schlecht informiert ist. Die konfuzianische Philosophie ist der vormodernen europäischen Philosophie näher, als allgemein bekannt ist.

Sie sagten, dass China eine Meritokratie ist. Hängt das damit zusammen, dass China eine andere geschichtliche und kulturelle Entwicklung nahm als der Westen und deshalb einen anderen kulturellen Hintergrund hat? Welche Rolle spielt der Konfuzianismus zum Verständnis Chinas?

Carty: Ich denke, dass viele der Unterschiede zwischen China und dem Westen theologischer und politischer Natur sind, weil der Westen die Aufklärung hatte und im Westen dem Individuum und seinen Entscheidungen ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt wird. Die konfuzianische Philosophie ist hingegen der vormodernen europäischen Philosophie viel näher als allgemein bekannt ist. Also näher den christlichen Werten und der griechisch-römischen Kultur, der Vernunft, die darin enthalten ist.

Ich beobachtete in China die Verhandlungen mit der römisch-katholischen Kirche zur Erneuerung des Konkordats. Das chinesische Regime, obwohl es nominell kommunistisch ist, war sehr daran interessiert, den Vertrag zu erneuern. Es ging ihm vor allem um die Ernennung der Bischöfe, bei der die Regierung ein Mitspracherecht haben sollte. Ansonsten ist die Religionsfreiheit in China ein unumstrittenes Thema.

Das Ergebnis dieser Verhandlungen war, dass die chinesischen Behörden mit dem Vatikan eine Ausstellung über christliche Kunst und Kultur in China veranstalteten. Es gab Ausstellungen in chinesischen Universitäten über die Grenzenlosigkeit der griechischen Klassik und des Konfuzianismus.

Ich denke, die westliche Moderne seit der Aufklärung, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg, ist eine zivilisatorische Ebene, die in China als künstlich verstanden wird. Natürlich gibt es junge Chinesen, die dafür Bewunderung haben, aber die offizielle Kultur versucht, eine alternative chinesische Sicht der Moderne zu präsentieren, die näher an der westeuropäischen kulturellen Tradition vor der Aufklärung angesiedelt ist.

Dr. Anthony Carty ist Professor für Völkerrecht am Beijing Institute of Technology in Peking. Zudem hat Carty den Sir Y K Pao-Lehrstuhl für öffentliches Recht an der Universität von Hongkong inne. Zuvor wirkte er als Professor für Öffentliches Recht an der Universität Aberdeen (­Schottland).

Das Gespräch führte Bernhard Tomaschitz. Dieser Beitrag erschien zuvor in ZURZEIT, unserem Partner in der EUROPÄISCHEN MEDIENKOOPERATION

Quelle: https://unser-mitteleuropa.com/anthony-carty-politischer-moralismus-des-westens-bedroht-den-frieden/