Am Samstag, dem 11. Juli, trafen sich einige hunderte in Berlin lebende Serben vor dem Brandenburger Tor. Dieses Datum steht in der jüngeren Geschichte des Balkans für das Massaker von Srebrenica. An diesem Samstag ging es aber nicht um Erinnerungspolitik. Die Berliner Serben versammelten sich, um ihre tiefe Betroffenheit angesichts der aktuellen Zustände in ihrem Heimatland kundzugeben. 

Laut der serbischen Verfassung wird das Land demokratisch regiert und rechtsstaatlich verwaltet. Der politische Alltag ist aber weit davon entfernt. Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) zählt mit 730.000 Mitgliedern zu den größten Parteien Europas. Für ein Land mit sieben Millionen Einwohnern ist die Zahl durchaus beeindruckend. Die Versammelten meinten aber, dass viele der Partei unter Druck, ja aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, beigetreten seien.

Die Corona-Ausnahmeregelungen verliehen den Geschehnissen eine besonders bedrückende Wende. Die Regierung erließ eine generelle Ausgangssperre von 17 bis 5 Uhr. In den anderen Stunden durfte man sich nicht einmal zu fünft treffen. Die Maßnahme setzt verbriefte Bürgerrechte, wie die Versammlungs-, Rede-, Bewegungs- und Berufsfreiheit faktisch außer Kraft und unterbindet jegliche gesellschaftliche Diskussion. 

Man weiß, dass öffentliche Gelder veruntreut werden, dass die Ausnahmeregelungen verfassungsbrüchig sind. Doch für die kritischen Stimmen gibt es in den gleichgeschalteten Medien keine Plattform. Gegen die Regierungskritiker lief eine massive Hetzkampagne. Sie seien Nestbeschmutzer, Steigbügelhalter ausländischer Feinde, welche eine angeblich demokratische Ordnung zerstören und den Rechtsstaat schwächen wollen. 

DISKRETE MACHTSTRUKTUREN AUCH IN BELGRAD

Aber mal ehrlich: Demokratie? Rechtsstaat? Unter dem Deckmantel pseudodemokratischer Rituale wird das Land autoritär von korrupten Eliten und diskreten Machtstrukturen regiert. Diesen Komplex nennt man »Tiefer Staat«. Zu den pseudodemokratischen Ritualen, welche die echten Machtverhältnisse im Lande kaschieren, zählen auch die am 21. Juni stattgefunden Parlamentswahlen. 

Während die Opposition einen Wahlboykott erklärte, erlebte die Regierungspartei SNS einen triumphalen Einzug in das Hohe Haus. Dies ist aber nicht dem Willen des Volkes zu verdanken. Die Berliner Demonstranten berichteten, dass nur jeder dritte stimmberechtigte Bürger am 21. Juni von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht habe. Nur 60 Prozent davon hätten die Stimme an die Regierungspartei vergeben. Die Regierungspartei SNS bekam damit jedoch mehr als drei Viertel der Sitze in der Nationalversammlung. Die Ausnahmeregelungen waren vor den Wahlen kurz aufgehoben worden, um gleich danach wieder in vollem Umfang verhängt zu werden. Aus dem Gefühl der Machtlosigkeit und berechtigter Empörung wuchs eine explosive Stimmung, die mit einem verschlossenen Kochtopf auf Feuer zu vergleichen ist. 

DEMOKRATISCHE GRUNDRECHTE FAST WELTWEIT AUSSER KRAFT

Die Belgrader Verhältnisse sind für die jüngsten Entwicklungen rund um den Erdball typisch. Demokratische Grundrechte werden weltweit unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung außer Kraft gesetzt. Erstaunlich ist jedoch der geleistete Widerstand. 

Am Dienstag, dem 7. Juli 2020, erklärte Präsident Vučić im öffentlichen Fernsehen die Wiedereinführung des Lockdowns. Dann explodierte der Kochtopf, man ging noch am selben Tag auf die Straße. Protestierende aus dem liberalen Belgrader Mittelstand, Menschenrechtler, Studenten und Arbeiter standen für einen friedlichen Charakter des Protests. Viele davon trugen Schutzmasken und versuchten, die soziale Distanz einzuhalten. Doch bald flogen die ersten Flaschen und Steine in Richtung der Polizei, welche diese mit Tränengas erwiderte. Wenn Politik in Serbien auf die Straßen kommt, sind Hooligans immer vorne mit dabei. So wie zur Zeit des tragischen Zerfalls Jugoslawiens oder beim Sturz des Präsidenten Milošević. 

Gegen 22 Uhr stürmte eine Gruppe der Jugendlichen, darunter Hooligans und radikale Impfgegner das Parlamentsgebäude und besetzte es. Eine Räumung seitens der Polizei erfolgte zügig. Weitere Versuche, die Besetzung zu wiederholen, blieben ohne Erfolg. Trotz des verstärkten Einsatzes der Belgrader Polizei, der Kavallerie und der Gendarmerie gingen die Unruhen in den kommenden Tagen weiter, bis Präsident Vučić die angekündigte Ausgangssperre zurücknahm. Ein Mann kam bei den Unruhen ums Leben. 

Der Protest ließ sich nicht spalten, wagte diesen ersten Schritt, gewann die erste Schlacht. Am Wochenende gingen die Proteste in Belgrad weiter. Es geht aber um viel mehr als nur um die Ausgangssperre. Manche wollen Neuwahlen, andere stellen sich gegen die Maskenpflicht, gegen die Impfpflicht, gegen den diskreten Machtkomplex sowie zweifelhafte Technologien. Obwohl es bei den Protesten in Berlin um die Verhältnisse in Serbien ging, sehen die liberalen serbischen Demonstranten die gleichen undemokratischen und propagandistischen Verhältnisse bezüglich Corona auch in Deutschland.